Das Rentier Akubi – Kurzgeschichten für Kinder

Akubi und Castor – eine Gutenachtgeschichte für Kinder

Autsch, Akubi zog den Kopf nach unten und stöhnte vor Schmerz.  Er hatte sich schon wieder mit  seinem kleinen Geweih in einem Ast verfangen und sich dabei den Kopf gestoßen. Noch immer hatte er sich nicht daran gewöhnt, dass zwischen seinen beiden Ohren nun langsam zwei geschwungene Hörner wuchsen. Wie alle Rentiere war auch er ohne ein Geweih zur Welt gekommen.

Er hielt einen Moment inne und überlegte, ob er weiter durch den Wald zum Fluss laufen oder lieber zu seiner Herde zurückkehren sollte.

Akubi war ein Rentierjunge und lebte mit  seiner Mutter und seiner Rentierherde im Norden Kanadas, ganz nah am Nordpol. Karibu – so nannten die Menschen ihn und seine Artgenossen. Das bedeutet in der Sprache der kanadischen Ureinwohner so viel wie „der, der Schnee schaufelt“. Im Winter suchten seine Mutter und die anderen Eltern im Schnee mit ihren großen Hufen nach Essbarem. Das sieht aus, als würden sie graben. Daher dieser Name.

Akubi liebte es, wenn Wiesen und Wälder der Tundra von einer dichten, weißen Eisdecke überzogen waren. Erst ein einziges Mal hatte er das erlebt. Doch jetzt war Sommer: Überall wuchsen grüne Moose und Flechten, die Sonne schien und das Wasser der umliegenden Flüsse plätscherte laut.

Er entschied sich, noch ein kleines Stück weiter bis zum großen Fluss zu traben: Er hatte Durst und Lust auf ein erfrischendes Bad. Nach ein paar Schritten hörte er schon das Rauschen und konnte es kaum erwarten, seine Hufe in das eiskalte Wasser zu tauchen.

Der Fluss war gefährlich, das sagte seine Mutter. Und sie hatte ihm verboten, allein hierher zu kommen. Rentiere konnten zwar schwimmen und durchquerten bei ihren langen Wanderungen durch die Tundra auch Flüsse, doch Akubi war noch jung und hatte wenig Übung.

Aber er war nicht ängstlich und liebte das Wasser wie den Schnee. Er tapste mutig in den sprudelnden Strom. Das Wasser gluckste und plätscherte laut; überall lagen dicke, moosbewachsene Baumstämme. Er musste vorsichtig sein, denn der Boden war uneben und rutschig.

Etwas weiter flussabwärts gab es einen Wasserfall. Ob er sich bis dahin vorwagen sollte? Er setzte seine linke Vorderhufe vor und da passierte es: Er verlor den Halt, rutschte aus und fiel hin. Erschrocken versuchte Akubi wieder aufzustehen, doch sein Vorderbein war unter einen der wuchtigen Baumstämme gerutscht.

Verzweifelt stieß Akubi einen herzzerreißenden Klagelaut aus: Was sollte er jetzt tun? Wer würde ihn hier finden? Seine Mutter bestimmt nicht. Als die erste Träne über sein weiches, graubraunes Fell rollte, hörte er plötzlich ein Geräusch.

„Ein kleines Rentier, das im Fluss liegt und weint – ich glaub‘s ja nicht!“

Akubi drehte sich um und sah einen dicken Biber vor sich. Er kannte die rotbraunen Tiere, die am Fluss lebten, hatte aber noch nie mit einem der putzigen Nager gesprochen.

„Kannst du mir helfen? Mein Bein steckt unter dem Baum fest.“

„Bäume sind sozusagen meine Spezialität!“, sagte der Biber mit stolzgeschwellter Brust und machte sich daran, den schweren Baumstamm mit seinen vier riesigen Nagezähnen zu zerteilen. Akubi staunte: So etwas hatte er noch nie gesehen!

Nach ein paar Minuten hatte er sein Werk vollbracht: Der Stamm zerfiel in zwei Teile und gab Huf und Bein des Rentiers frei. Akubi sprang erleichtert auf und strahlte:

„Cool, das war wirklich klasse. Ohne deine Hilfe wäre ich verloren gewesen!“

„Das war eine meiner leichtesten Übungen“, prahlte der Biber, „vielleicht weißt du es nicht, aber ich bin der beste Baumeister von Kanada: Ich kann Dämme und Kanäle bauen und große Bäume fällen!“

Akubi überlegte, womit er den kleinen Angeber beeindrucken konnte:

„Ich kann schneller laufen als der Wind!“, erwiderte er selbstbewusst.

„Das mag ja sein, aber das hat dir hier im Fluss nicht geholfen!“ Der Biber grinste und kräuselte seine Barthaare: „Wie heißt du eigentlich?“

„Akubi. Und du?“

„Gestatten: Castor, Biber von Beruf. Wir Biber sind in der ganzen Welt berühmt für unsere gigantischen Staudämme und Höhlen. Unser Bild ist sogar auf der kanadischen Fünf-Cent-Münze drauf.“

„Dafür ziehen wir Rentiere den Schlitten vom Weihnachtsmann“, sagte Akubi triumphierend.

Castor schwieg. Er schien beeindruckt. Dann sah er sich um und fragte: „Was machst du eigentlich hier?“

„Ich wollte schwimmen üben, aber jetzt muss ich zurück zu meiner Herde. Meine Mama wird sich schon Sorgen machen.“

„Du willst gehen, ohne meine Burg und meinen Damm zu bewundern?“

Akubi sah, dass Castor enttäuscht war und beeilte sich zu sagen:

„Ich komme morgen wieder. Dann kannst du mir alles zeigen.“

Castor war einverstanden. Sie verabredeten sich für den nächsten Nachmittag, denn morgens schlief der Biber. Akubi warf noch einen letzten Blick auf den Fluss und sah den braunen Schopf des Bibers untertauchen.

Als er zehn Minuten später seine Herde erblickte, fiel ihm ein Stein vom Herzen und er merkte, wie müde er war. Er lief zu seiner Mutter, schmiegte sich an ihr weiches Fell und schloss die Augen.

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